Der Mythos vom größeren Zusammenhalt

Angeblich wäre die DDR-Geschichte übererforscht. So lautet ein Argument von Historikern, die gerne mehr Geld und Beachtung für ihre Forschungsgebiete hätten. Andere meinen, die Repression hätte zu sehr im Vordergrund gestanden, jetzt solle man sich endlich um den normalen, unpolitischen Alltag der schweigenden Mehrheit kümmern.

Die hätte (laut Schauspielerin und Regisseurin Katharina Thalbach) besseren Sex als die Westmenschen gehabt, mehr gelacht und vor allem seien der Zusammenhalt und die Solidarität der Menschen größer gewesen.

Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass angesichts der  vorhandenen Einkommensunterschiede, des unterschiedlichen Zugangs zur Zweitwährung D-Mark, der Machtposition von Kellnern, Handwerkern, HO-Verkäuferinnen, angesichts der Privilegien der Oberschicht (eigene Krankenhäuser, eigene Läden  u.v.a.m.), des unterschiedlichen Versorgungsgrades der Städte und Dörfer, die Eintracht wirklich größer als die Zwietracht gewesen sein soll. Abgesehen davon, dass die Behauptung eines weit verbreiteten „Nettzueinanderseins“ nicht unbedingt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur beiträgt. Das Leben in  der Diktatur wäre so erträglicher gewesen, aber man muss sich deswegen keine Diktatur herbeisehnen.

Dieser Mythos, auch vom Bürgerrechtler Pfarrer Schorlemmer und (neuerdings) vom Psychiater Maaz  in Zeitungsartikeln und Vorträgen gepflegt, wurde mir bei Gesprächen nicht bestätigt. Allenfalls hätte man den Nachbarn etwas mitgebracht, wenn es irgendwo überraschend etwas gab, was nicht immer zu haben war. Man teilte sich mit den Nachbarn das Telefon, daher musste man öfter miteinander reden.

Franz Loeser, Philosophieprofessor und SED-Mitglied floh 1984 aus der DDR. Er schmuggelte sein Buch hinaus: Die unwürdige Gesellschaft. Quo vadis, DDR?, 1984 im westdeutschen Bund-Verlag erschienen. Da steht schon alles drin, was nach der Revolution Kritisches über die SED-Diktatur geschrieben wurde. Loeser schreibt u. a. über die psychischen Deformationen, die eine versagende Planwirtschaft hervorruft (p. 115f): „… Die Konsequenz ist, dass ein frustrierter, desillusionierter, aggressiver, unterdrückter Menschentyp entsteht, der sich seiner Unterdrückung zu entziehen sucht, in dem er sich wo immer möglich vom gesellschaftlichen Leben in seine vier Wände zurückzieht, in die Geborgenheit der Familie. Das Ergebnis dieser Entfremdung: eine unsoziale Aggressivität und Rücksichtslosigkeit des DDR-Bürgers in seinen öffentlichen Beziehungen. Sie ist mir immer ganz besonders aufgefallen, wenn ich sie mit dem sozialen Verhalten der Bürger im Kapitalismus vergleiche, die ich gut kenne: die Briten, Japaner, Kalifornier und Kölner… Die Höflichkeit, Zuvorkommenheit und Rücksichtnahme dieser Menschen unterscheidet sich vom öffentlichen Verhalten der DDR-Bürger wie Tag und Nacht.“

Man kann das so lesen, dass dieser unsoziale, aggressive Mensch wenigstens in seinen eigenen vier Wänden den viel zitierten größeren Zusammenhalt pflegte oder dass ein solcher Mensch weder drinnen noch draußen dazu fähig war. Die sehr hohe Scheidungsrate würde für diese Lesart sprechen. Größerer sozialer Zusammenhalt als Errungenschaft der DDR zu preisen, auf die man stolz sein kann, wie das Frau Thalbach u.a. sind, ist wohl übertrieben.


Bei Manfred Klug, Abgehauen, gefunden (9. Aufl. 1996, p 157f):

„Wir haben viele Freunde, weil wir viele Freunde zum Leben brauchen. Einen fingerfertigen, einen mit Verbindungen zur Partei, einen Fleischer, einen mit Verbindungen zu einem Rohrleger, viele, viele Freunde. Die DDR ist das viel beneidete Land der Freundschaften. Tausend Kleinigkeiten, das ganze Leben funktioniert nur aus Freundschaften. Ein Klempner, der nicht dein Duzfreund ist, kommt nicht. Dann gibt es Freundschaften, die nur vom Zusammenhalt gegen andere Freundesgruppen leben, gegen Langweilerkollektive unter den Lehrern, Dozenten und Parteisekretären, … gegen die Bande der Taxifahrer, gegen Postbeamte und Volkspolizisten, vor allem aber gegen die faulen Kellner.

Ein sehr lesenswertes Buch. Eines, das in die Kategorie gehört: Mehr Bücher über die DDR muss man nicht lesen!

Harald Hauswald, ein Fotograf, der den DDR-Alltag fotografierte und von einigen Dutzend Spitzeln überwacht wurde, sagt in dem Dokumentarfilm „Der Radfahrer“ (bei der Bundeszentrale f. pol. Bildung zu bekommen): „Wenn sich drei oder vier Leute treffen, ist die Stasi dabei. Das war einem bewusst.“

4 Kommentare zu „Der Mythos vom größeren Zusammenhalt

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