Viele Jahre gab es den Vorwurf, das Thema DDR werde kaum unterrichtet und in den Köpfen vieler junger Schüler herrsche als DDR-Bild „die Vorstellung eines ärmlichen, skurrilen und witzigen Landes (vor), das aber irgendwie sehr sozial war”. So fasste Prof. Klaus Schroeder seine Studien zum Schülerwissen über die DDR vor allem in den neuen Bundesländern zusammen.[1]
Jetzt lautet der Vorwurf, dass die Repression im Vordergrund stünde und nicht das Fortschrittliche in der SED-Diktatur. Übersetzt heißt das wohl, zu viel Staatssicherheit, zu wenig Kita und Frauenemanzipation. Verlangt wird mehr Ausgewogenheit.
Dabei beruft man sich im Osten Deutschlands auf ein westdeutsches Dokument aus dem Jahre 1976, den Beutelsbacher Konsens.[2] Er ist – auf einer Seite zusammengefasst – das informelle Ergebnisprotokoll einer Tagung westdeutscher Politikdidaktiker: Politikunterricht darf nicht indoktrinieren. Er muss kontrovers und ausgewogen sein.
Dieses Kurzprotokoll einer Tagung in Beutelsbach, in der Nähe von Stuttgart, zielte damals auf einen unabhängigen, wissenschaftspropädeutischen Unterricht in einem Fach, das je nach Bundesland nicht frei von parteipolitischer Einflussnahme auf die Lehrpläne gewesen war. So gab es eine vordergründig unpolitische, eher konservative “Gemeinschaftskunde”, aber auch den liberalen konfliktdidaktischen Ansatz, dass das Wesen der Politik der nach bestimmten Regeln ausgetragene Streit und die Suche nach Kompromissen sei. Es ging darum, den Politikunterricht vor Vorgaben aus der Politik zu schützen.
Außerhalb politikdidaktischer Lehrausbildungsseminare ist das Beutelsbacher Papier in Westdeutschland eher unbekannt. In der geschichtspolitischen Diskussion um die DDR-Aufarbeitung in den neuen Bundesländern erfährt es eine Renaissance. Der westdeutsche Entstehungskontext wird dabei ausgeblendet.
Was besagt der Beutelsbacher Konsens?
Es bestand in Beutelsbach Einigkeit über drei Grundsätze des Politikunterrichts:
1. Überwältigungsverbot
Es ist nicht erlaubt, den Schüler im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der Gewinnung eines selbstständigen Urteils zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.
2. Kontroversität
Der Lehrende muss ein Thema kontrovers darstellen und diskutieren, wenn es in Politik und Wissenschaft kontrovers erscheint. Unterschiedliche Standpunkte dürfen nicht unter den Tisch fallen.
3. Schülerorientierung
Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen.
Dieser westdeutsche politikdidaktische Konsens wurde zwar schon in den brandenburgischen Rahmenlehrplänen von 1996 erwähnt, seine volle Wirkung entfaltete er aber erst mit der Enquetekommission des brandenburgischen Landtages zur „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung der Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg“ 2010-14.
Die Kommission sollte aufarbeiten, wie in Brandenburg mit dem DDR-Erbe nach der Friedlichen Revolution umgegangen worden war. Es gab einiges aufzuarbeiten, u. a. die nachlässige Stasi-Überprüfung von Richtern, Beamten und Parlamentariern, der Erhalt der LPG-Strukturen in der Landwirtschaft, die Vernachlässigung der Hilfe für von der SED-Verfolgte.
In dem Gutachten über den Umgang des Landes mit den von der SED Verfolgten moniert Prof Jürgen Angelow, ein früherer DDR-Militärhistoriker, dass in den Gedenkstätten, den früheren MfS-Gefängnissen, ehemalige Häftlinge Schüler führen würden. Deren Narrativ von der Repression durch die SED, die Erzählung von Folter, erzwungenen Geständnissen und Urteilen, die das MfS den Richtern geschrieben hätte, würde die Schüler überwältigen.
Von der historischen Forschung werden Zeitzeugen mit Skepsis gesehen. Ihre Erinnerung mag eine wertvolle Quelle sein, sie muss aber mit anderen Quellen abgeglichen und verifiziert werden.
Angelow beklagt das Überhandnehmen der DDR-Zeitzeugen, die Repression erlitten haben. Es habe in der DDR viele Lebenswirklichkeiten gegeben. Ein wissenschaftlich-kritisches DDR-Verständnis könne mit diesen Zeitzeugen nicht entstehen. Auch bei den Zeitzeugen müsse es Mehrdimensionalität geben.
Was hieße das konkret für Führungen in den Stasi-Haftanstalten etwa in Potsdam, Cottbus oder Berlin-Hohenschönhausen? Reicht es nicht, dass Gedenkstättenführungen durch ehemalige Häftlinge im Unterricht vor- und nachbereitet werden, dass in den Gedenkstätten wissenschaftlich betreute Ausstellungen angesehen werden können. Oder muss es Tandem-Führungen geben mit je einem Häftling und einem Stasi-Vernehmer? Muss sich zu dem Zeitzeugen, der von seiner Haftstrafe wegen eines Ausreiseantrages erzählt, der DDR-Tourist gesellen, der mit der MS Völkerfreundschaft den sozialistischen Bruderstaat Kuba besuchen durfte?
In einem weiteren Gutachten, dem zum Schulunterricht von Prof. Dr. Ingo Juchler, findet der Beutelsbacher Konsens ebenfalls Anwendung. In der Abschlusssitzung des Brandenburger Landtages zur eingangs genannten Enquetekommission verlangte der sozialistische Abgeordnete Peer Jürgens die Anwendung des Beutelsbacher Konsenses ganz allgemein für die Betrachtung der SED.
Das westdeutsche Konsenspapier hat damit die Sphäre der politikdidaktischen Seminare verlassen und erlebt in Ostdeutschland, insbesondere in Brandenburg, aber auch in Thüringen, nach vierzig Jahre eine Wiedergeburt. Potsdamer Historiker, Vertreter der Institutionen der politischen Bildung, die Regierungspartei Die Linke führen mahnend das Überwältigungsverbot an, wenn es um die DDR-Aufarbeitung geht.
Was beabsichtigen die Verfechter/-innen des Überwältigungsverbotes und der Kontroversität bei der Behandlung der DDR im Schulunterricht?
Muss jetzt auch der MfS-Vernehmer, der feindlich gesinnte Schüler aufzuspüren hatte, mit seinem Narrativ in den Unterricht geholt werden und nicht nur der von der SED Verfolgte? Ist die „Aktion Ungeziefer“, die Umsiedlung Tausender angeblich unzuverlässiger Menschen an der Zonengrenze, als berechtigte Maßnahme, dem Kontroversitätsgebot folgend, in den Unterricht einzuführen? Muss es die schon genannten Tandem-Führungen geben mit je einem Häftling und einem Stasi-Vernehmer?
Reicht es nicht, dass Gedenkstättenführungen durch ehemalige Häftlinge im Unterricht vor- und nachbereitet werden, dass in den Gedenkstätten wissenschaftlich betreute Ausstellungen angesehen werden können?
Darf man das antifaschistische Narrativ der DDR-Kommunisten widerlegen und die Altnazis in den DDR-Zeitungsredaktionen, der Kriminalpolizei, in den Ministerien und auch im ZK erwähnen – nicht zu vergessen: der „antifaschistische Schutzwall“? Wie weit geht das Kontroversitätsgebot?
Ich halte es mit dem hessischen Politikdidaktiker Wolfgang Sander: Die Grenze der Kontroversität liege „in der Forderung, nur solche kulturellen Positionen als legitim in Bildungsangeboten zu repräsentieren, die ihrerseits bereit sind, andere als die eigene als legitim anzuerkennen“ (Im GEW-Magazin Erziehung und Wissenschaft, 2/2009, p 239ff). Damit würde das Kontroversitätsgebot für SED/DDR-Positionen doch etwas eingeschränkt werden. Warum wird das in Ostdeutschland in dieser Klarheit nicht ausgesprochen?
Man stelle sich vor, bei der Behandlung der NS-Diktatur hätten besorgte Historiker und Erziehungswissenschaftler so argumentiert: Multiperspektivisch müsse der Unterricht sein, keine Überwältigung durch Überlebende der KZs als Zeitzeugen in den Schulen, sondern Ausgewogenheit. Unterricht müsse ergebnisoffen sein. Wenn die Schüler sich ein Geschichtsbild konstruieren, in dem Hitler als Demokrat aufscheint, auch gut?
Darf ein Lehrer die Vorteile der Marktwirtschaft gegenüber der kommunistischen Zentralverwaltungswirtschaft erarbeiten oder überwältigt er damit die Schüler? Muss er die Vor- und Nachteile der SED-Diktatur auf dem Whiteboard notieren, weil er sonst nicht ausgewogen ist?
Darf man für die Werte und Regeln des Grundgesetzes werben oder überwältigt man damit die Schüler?
Ausgerechnet ein Staat, der die Schule missbraucht hat für ideologische Indoktrination, soll jetzt im “Systemvergleich” gleichberechtigt neben einen Staat mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung gestellt werden?
Wie soll man die Werte eines demokratischen Staates vermitteln, wenn ein missverstandenes Überwältigungsverbot dies verhindert?
Was könnte man durch die Beschäftigung mit der Deutschen Demokratischen Republik nicht alles über den Wert einer freiheitlichen Demokratie lernen! Überrumpelt man Schüler, wenn man einen Staat, in dem eine Partei die Wahrheit gepachtet hatte und Menschen anderer Meinung als Feinde bekämpfte, als Alternative zum Rechts- und Sozialstaat Bundesrepublik ablehnt?
Kritik am Unterdrückungssystem der SED darf selbstverständlich nicht in einen Angriff auf die Biographien der ehemaligen DDR-Bewohner umgedeutet werden. Es scheint aber schwer erklärbar zu sein, dass Ostdeutsche nicht in Sack und Asche gehen müssen, wenn man die Deutsche Demokratische Republik eine Diktatur nennt. Systemkritik ist kein Angriff auf die ostdeutsche Bevölkerung. Warum können manche Politiker und Geschichtsprofessoren das nicht so klar ausdrücken wie die Autorin Claudia Rusch in einem Zeitungsinterview: “Deutlich zu benennen, welche Strukturen, Manipulationen und Repressalien das System bestimmt haben, heißt ja keineswegs, das dort stattgefundene Leben gleich mit zu verdammen.“
Selbstverständlich muss Unterricht in Ostdeutschland berücksichtigen, dass diejenigen, die in der DDR gut gelebt haben, bis heute davon schwärmen. Wenn manche Eltern, Großeltern, Lehrer/-innen und die Linkspartei die untergegangene DDR schönreden, sind Schüler unsicher, wem sie nun glauben sollen. Sie müssen da abgeholt werden, wo sie sind.
Dafür hatte die Beutelsbacher Tagung einen Rat, der in Brandenburg weniger bekannt zu sein scheint: “Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muss, die den Schülern von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind.”
Es ist bedauerlich, dass in Brandenburg eine in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte politikdidaktische Formel geschichtspolitisch missbraucht wird.
Es ist evident, dass Schüler nicht durch Lehrermeinungen überwältigt werden dürfen. Der Beutelsbacher Konsens ist daher in westdeutschen Lehrerausbildungsseminaren kein großes Thema mehr. Der Konsens war vor 40 Jahren eine verdienstvolle Übereinkunft, mit der das Gemeinsame der parteipolitisch geprägten Politikdidaktiken herausgearbeitet wurde. Es ging damals um Kontroversität und Pluralismus im Rahmen der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, nicht um die ausgewogene, multidimensionale und ergebnisoffene Betrachtung einer Diktatur, die ihre Schüler bedenkenlos überwältigte.[3]
Es stünde Potsdamer Historikern besser an, einen „Potsdamer Konsens“ zur Behandlung der DDR im Unterricht“ zu erarbeiten, der feststellte, dass man Schüler nicht überwältigt, wenn man einen Staat, in dem eine einzige Partei herrschte, in dem es weder Meinungs- noch Pressefreiheit gab, in dem 40 Jahre lang Wahlen gefälscht wurden, als Unrechtsstaat bezeichnet.
Eine Hilfestellung gibt Klaus-Dieter Kaiser in einem kleinen Band, der sich mit der Anwendbarkeit des Konsenses auf das Thema DDR in der politischen Bildung beschäftigt. Er schlägt als Ergänzung den „antitotalitären Konsens“ vor.[4]
[1] Prof. Klaus Schroeder in einem Vortrag am 7.4.08 in Potsdam. Er fasste damit das Ergebnis seiner Studie von 2007 über das Schülerwissen zur DDR zusammen. Ergebnisse der Studie: http://www.spiegel.de/schulspiegel/berliner-studie-was-schueler-ueber-ddr-und-brd-denken-a-516462.html (19.3.16)
[2] Hans-Georg Wehling, in: Schiele, Siegfried/Schneider, Herbert (Hrsg.) Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart 1977, S. 179 f.
[3] Zur Notwendigkeit der Weiterentwicklung des Beutelsbacher Konsenses: https://www.lpb-bw.de/publikationen/did_reihe/band16/didakr9c.htm (19.3.16) [4] Klaus Dieter Kaiser, Was bedeutet der Beutelsbacher Konsensals didaktische Grundlage im Blick auf die Vermittlung von DDR-Geschichte?, in: Jochen Schmidt/Steffen Schoon (Hrsg.), Politische Bildung auf schwierigem Terrain, Landeszentrale f. pol. Bildung Mecklenburg-Vorpommern, 2016, p 66
Zuerst wurde dieser Text 2016 als Posting veröffentlicht: Pro und Contra Diktatur. Mehr Ausgewogenheit beim Unterricht über die DDR?
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