Das offizielle Gedenken an die Tage 1989, an denen die DDR zusammenbrach, empfand ich merkwürdig unhistorisch. Geredet wurde über Antisemitismus und Rechtsextremismus, gewarnt wurde vor den Umsturzplänen der AfD. Geredet wurde über Mauern in aller Welt, die ausgrenzen würden (Dr. Angela Merkel). Grotesker Weise wurde in Berlin unweit des Holocaust-Mahnmals in Anwesenheit der Bundeskanzlerin und ihres Außenministers Israel aufgefordert, die Mauern abzubauen, mit denen sich der Staat vor palästinensischen Terroristen schützt. (Wenige Tage später gab es am selben Ort einen der in Berlin üblich gewordenen Aufmärsche, in denen die Auslöschung Israels gefordert wurde.)
Die DDR aber fehlte in den Reden.
Darf man sich nicht darüber freuen, dass Schluss war mit Todesschüssen, mit Umweltverschmutzung, Stasi-Überwachung, Unfreiheit und Indoktrination? Warum wurde das alles so gut wie nie erwähnt?
Ich fand dann doch noch eine Veranstaltung, in der an das, was vor 30 Jahren zu Ende ging, erinnert wurde: Im Potsdam-Museum wurden übers Jahr zu verschiedenen Themen der Friedlichen Revolution mit Bezug zu Potsdam Zeitzeugengespräche geführt. So zuletzt über die Demonstration am 4.11.89 (die in Potsdam, nicht die in Berlin!) und die Öffnung der Glienicker Brücke am 10.11.89. (Die Gedenkfeier an diesem Ort litt, wie schon vor fünf Jahren, an nicht unerheblichen organisatorischen Mängeln.)
Moderiert von Susanne K. Fienhold Sheen die auch Zeitzeugin ist, berichteten die Zeitzeugen Hartmut Mechtel und Bernd Blumrich.
Vom Fotografen Blumrich stammt das Buch Linienuntreue, in dem er seine Fotos von der Revolution in Potsdam, Kleinmachnow und Teltow zeigt.
Ich will hier nur ein paar Streiflichter von diesem Abend erzählen.
Der Veranstaltungssaal im Museum ist voll. Dabei ist es schon der 14.11. und dies ist die vorletzte von zehn Veranstaltungen. Als die Moderatorin fragt, wer damals an der Demonstration teilgenommen hatte, heben die meisten der Anwesenden die Hand.
Hartmut Mechtel, einer der Organisatoren vom 4.11.89, erzählt, dass die Volkspolizei Zusagen nicht eingehalten hatte. Aber die Polizisten waren unbewaffnet. Das Pfarrerehepaar Flade und andere hatte eine Demonstration angemeldet, keine Kundgebung. Der (heutige) Luisenplatz aber wurde immer voller. Auf dem Balkon einer Anwohnerin wurde kurzfristig eine Lautsprecheranlage installiert.
Man hatte Angst vor knüppelnden oder gar schießenden Volkspolizisten, vor Stasi-Aufwieglern in der Menge. Bei jedem Fotografen fragte man sich, ob die Stasi fotografierte oder ein Bürger.
Auf die Menge und ein über den Gleisen liegendes Kabel fuhr plötzlich eine Straßenbahn zu. In ihr saßen, so Mechtel, SED-Pensionäre, die darauf bestanden, weiterfahren zu können. Begleitet wurden sie von jüngeren, sportlich aussehenden Männern. Mechtel suchte Hilfe bei Vopos, die mit ihrem Wagen in der Nähe standen. Die nahmen vor ihm Reißaus.
Man marschierte absichtlich nicht am Stasi-Hauptquartier vorbei.
Eine größere Menschenmenge hat das offizielle Ende der Demonstration nicht mitbekommen und läuft am Stasi-Gebäude vorbei. Niemand ist zu sehen. Einige Häuser weiter aber, auf dem Balkon der sowjetischen Stadtkommandantur, stehen Offiziere und winken den Demonstranten zu. Auch geht das Gerücht von einer sowjetischen Militärkapelle, die aufmarschiert wäre.
Die Volkspolizei sprach von 20.000 Teilnehmern, Mechtel geht von 50.000 und mehr aus.
Man spricht gemeinhin von den Bürgerrechtlern, so als ob es eine homogene Gruppe von engagierten Menschen gewesen wäre. Das war nicht der Fall, wie man in Randbemerkungen von Mechtel hört. Es gab wohl Eifersüchteleien, „Aktivisten der letzten Sekunde“ (Mechtel), Richtungsstreit, Eintritte und Austritte bei Gruppen und Ausschüssen, Neugründungen. Mechtel hat mehrfach die Zugehörigkeit gewechselt. Er bezeichnet sich selbst als ziemlich radikal. Stolz ist er darauf, dass er am 4.11., anders als von der Obrigkeit verlangt, nicht nur den Satz: „Die Veranstaltung ist beendet!“ sagte, sondern eine zehnminütige Rede hielt.
Fotograf Blumrich zeigt Fotos, die er von der Potsdamer Demonstration gemacht und von seiner Reise in die „Provinz“, wie er das Grenzgebiet von Kleinmachnow und Teltow nennt. Hier dokumentiert er, wie quasi über Nacht und ohne auf Anweisungen und Befehle zu warten, Betonplatten der Mauer verschwanden, Drahtverhaue aufgeschnitten wurden, Übergänge entstanden, mit von einer West-Berliner Firma gespendetem Asphalt der Übergang befestigt wurde.
Der Grenztruppenkommandeur erfährt aus der Zeitung, dass in seinem Abschnitt am nächsten Tag ein neuer Übergang entstehen soll. Der Teltower Bürgermeister ruft einem West-Berliner Polizisten zu, ob er wisse, dass hier ein Übergang eröffnet würde. Der alarmiert die Bezirksverwaltung, West-Berliner beseitigen Büsche und Baumwurzeln, dann gibt es ein Büffet am Wegesrand und das Polizeiorchester spielt.
Der Leiter des West-Berliner Wasserschutzpolizei-Stützpunktes auf Schwanenwerder ist für das Grenzgebiet an der Havel zwischen Potsdam und Wannsee zuständig. Er ärgert sich: „Ausgerechnet am Tag der Grenzöffnung auf der Glienicker Brücke war ich auf einem Lehrgang in Wiesbaden.“
Bernd Blumrich hat auf beiden Seiten Interviews gemacht, mit Grenztruppenkommandeuren, Polizisten, Bürgermeistern und Bürgerrechtlern. Dabei erfährt er auch wenig Bekanntes von diesem Stück Grenze, in dem Flüchtende ertranken oder erschossen wurden: Zwischen Booten der britischen Militärpolizei und den DDR-Grenztruppen kam es auf der Havel vor der Pfaueninsel schon mal zu verabrdeten Wettrennen. Die DDR-Grenzer hatten starke Volvo-Motoren in ihren Booten und gewannen meist. Mit einer Wasserleiche wollte keine Seite zu tun haben, man versucht, sie auf die jeweils andere Seite der Grenze zu schieben.
Als ein Lastkahn einmal auf Grund gelaufen war, telefonierten die Ost- und West-Grenzer miteinander. Weder der verfügbare West- noch der Ostschlepper allein konnten das Schiff flottkriegen. Einen stärkeren Schlepper zu beordern, hätte im Osten angeblich vier Wochen gedauert, im Westen drei Monate. Also nahmen es die beiden auf ihre Kappe und Ost- und Westschlepper zogen den Kahn gemeinsam in die Fahrrinne.
Zur Öffnung des Grenzübergangs Glienicker Brücke, der ab 1952 nur von Fahrzeugen der Alliierten Militärverbindungsmissionen in Potsdam benutzt werden durfte, steuerte Moderatorin Fienhold Sheen ihr eigenes Erlebnis bei. Sie wartet mit ganz wenigen Neugierigen am 10.11. auf die Öffnung der Brücke. Das Grenzgebiet war noch weiträumig abgesperrt. Hier war einmal ein junger Mann an einer Bushaltestelle von Grenzern erschossen worden.
Man wartet respektvoll vor der ersten äußeren Absperrung. Ein Soldat öffnet ein kleines Tor und stellt sich daneben. Nichts passiert weiter. Dann macht der Soldat eine ungeduldige Handbewegung und sagt: „Nu kommense schon!“ Die Moderatorin geht ungläubig durch das Tor, dann an den russischen Soldaten vorbei, überzeugt, dass unten Wasser ist (Was man von der Potsdamer Seite wegen des Sperrgebiets nicht sehen konnte) und läuft auf West-Berliner Gebiet. Es war ja weit weg vom Kurfürstendamm, also nicht viel los. Nur wenige Neugierige warteten darauf, dass sich etwas tat.. Sie will gerade umdrehen, als ein Schüler mit Diktiergerät sie anspricht. Er wollte für eine Schülerzeitung von der Grenzöffnung berichten. „Wo gehen Sie gerade hin?“ fragt er „Nach Hause!“. „Aber da geht es doch nach Potsdam!“ Da kapiert er, dass die Grenze offen sein muss und stürmt zur Brücke.
Unvergesslich ist ihr auch ein junges Pärchen, das sich an der Hand fasst und vor Freude schreiend an den ängstlich ausweichenden Soldaten über die Brücke und immer noch schreiend zurück läuft.