23.8.39: Ribbentrop-Molotow-Pakt

In Potsdam war gestern Prof. Dr. Karl Schlögel vom Gedenkstättenverein Leistikowstraße eingeladen, über den „Zusammenhang von Appeasementpolitik und Entfesselung des Zweiten Weltkriegs“ zu reden. Alle Grußwortsprecher (Stadt, Land, Verein) ließen es sich nicht nehmen, zuvor Koreferate zu halten. Deren Tenor war: Der Gedenktag ist umstritten. Der Vertreter des Wissenschafts- und Kulturministeriums versäumte es nicht, in seinem Grußwort, das eher ein Koreferat war, darauf hinzuweisen, dass der Gedenktag umstritten wäre. Vor allem osteuropäische Staaten hätten ihn gefordert und wollten der Opfer aller totalitären Regimes an diesem Tag gedenken. Dann zitiert der Grußwortsprecher Jehuda Bauer, den ehemaligen Direktor von Yad Vashem in Jerusalem; der lehne ihn ab. In Deutschland dürfe man nicht vergessen, dass Hitler der größere Verbrecher war. Alle Grußwortsprecher warnten unisono vor einer Gleichsetzung der Diktaturen. Die Nazis hätten die größeren Verbrechen begangen. Die deutsche Geschichte sperre gegen eine allzu schnel­­le Verallgemeinerung und auch gegen die Vereinheitlichung des Gedenkens. Und damit es ja keiner vergisst zählt er die Toten der Nazis auf: Sinti und Roma, sowj. Kriegsgefangene, Juden, Kriegstote, dann noch die Displaced Persons und die Kriegswaisen. Der Mann hat Angst davor, dass die Einzigartigkeit des Holocaust durch diesen Gedenktag verdrängt wird. Das sagte er in seinem Schlusssatz. Danach muss er zu einem anderen Termin.

Prof. Schlögel, als er endlich drangekommen war, meinte, er werde das ausgearbeitete Manuskript wohl jetzt beiseite legen. Er konzentrierte sich auf die zwei Jahre von 1939 bis 41, in denen Ostmitteleuropa von zwei Diktatoren brutal unterdrückt wurde.

Stalin erwies sich als der Geschicktere. Nicht nur, dass er nicht wie vereinbart, gleichzeitig mit den Deutschen in Polen einmarschierte, sondern erst zwei Wochen später, weil er abwarten wollte, wie die Großmächte reagieren. Die Sowjets gewannen durch den Vertrag die nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen Territorien des Zarenreichs wieder, sie vernichteten den „Bastard“ Polen (Molotow) und sowjetisierten die einverleibten Gebiete schnell und rücksichtslos. Tausende Flüchtlinge flohen vor den Sowjets zu den Deutschen, tausende flohen vor den Deutschen zu Stalin, tausende wurden auf beiden Seiten umgesiedelt. Juden flohen vor den Sowjets und landeten in deutschen KZ. Stalin ließ Juden nach Zentralasien umsiedeln. (Die somit den Holocaust überlebten.) Währenddessen führte Hitler im Westen Krieg. In Russland datiert man den Kriegsbeginn auf 1941. Schlögel meint, die Sowjetunion hätte 1940 sehr gut dagestanden. Dank Hitlers „Vorarbeit“ habe sie ihre sozialimperialistischen Ziele erreicht.

Der „Nichtangriffspakt“ vom 23. 8. fand seine Fortsetzung in einem „Freundschaftspakt“ am 27.9. Bis zum deutschen Einmarsch ins russische Polen gab es gemeinsame deutsch-sowjetische Grenzkommissionen, gemeinsame Umsiedlungsplanungen, gegenseitige Besuche von Regierungsdelegationen. Bis zum 21. Juni 1941 liefert die UdSSR vertragsgemäß Eisen und Erdöl ins Reichsgebiet.

Im November 1940 kommt Molotow sogar zum Staatsbesuch nach Berlin. (Man bedenke, wo in Europa die Hitlerarmee schon stand: vom Nordkap bis zu den Pyrenäen!) In einer sechsstündigen Unterredung macht er Hitler klar, dass Deutschland sich aus Finnland heraushalten solle. Man habe Interesse an den Dardanellen, und an den Ostseeausgängen wolle Russland auch präsent sein. Das interessierte Hitler aber nicht mehr, da war die Vorbereitung seines Russlandfeldzuges schon angelaufen.

Schlögel berichtete von Menschen, die aus Hitlers KZ entkommen waren und im GULag landeten und umgekehrt. Folterkeller des NKWD wurden nach Hitlers Überfall 1941 zu Folterkellern der SS, die wiederum beim sowjetischen Vormarsch vom KGB weiter benutzt wurden.

Was Balten und Polen angesichts der russischen Aggression vom Bau der russisch-deutschen Ostsee-Pipeline halten, muss er nicht mehr ausführen. Den Deutschen falle es schwer, sich in das Leid der Menschen in den ostmitteleuropäischen Staaten hineinzudenken.

Boris Reitschuster über den „Nichtangriffspakt“ vom 23.8.1939: „Der Hitler-Stalin-Pakt sollte den Deutschen 80 Jahre nach seiner Unterzeichnung mehr denn je eine Mahnung sein: Dass sie den verbrecherischen Charakter des Stalin-Regimes nicht mehr weiter durch Hitlers Verbrechen relativieren.“

Prof. Claudia Weber in der NZZ: Ein Bündnis, „das in der Forschung und in der öffentlichen Wahrnehmung ob seiner Ungeheuerlichkeit unterschätzt und marginalisiert worden ist.“

Ihr Buch: Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz

Nachtrag: Ich habe gerade in meinen drei Geschichtsatlanten nachgesehen: Es gibt keine explizite Karte mit der Darstellung der Gebietsaufteilung durch das geheime Zusatzabkommen. Das ist, schwer zu entziffern, in die Karten zum Zweiten Weltkrieg ab 1941 eingearbeitet. Dafür gibt es aber jede Menge blauer und roter Pfeile, die die Truppenbewegungen 1941 bis 1945 darstellen.

Es gibt in Deutschland keine offizielle Veranstaltung von Bundestag oder Bundesregierung.

2 Kommentare zu „23.8.39: Ribbentrop-Molotow-Pakt

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