Neuer Berlin-Brandenburger Lehrplan: Gesellschaftswissenschaften statt Geschichte

Berlin und Brandenburg ändern den Lehrplan der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer. Man kennt solche Reformen auch aus anderen Bundesländern.

In 5/6 soll es statt der getrennten Fächer die „Gesellschaftswissenschaften“ geben. Das ist hoch gestapelt, denn im Unterricht wird keine Wissenschaft betrieben. Warum heißt das Fach Gesellschaftswissenschaften, aber Musik nicht Musikwissenschaft, Englisch nicht Anglistik? Eine Annäherung an wissenschaftliche Methoden wäre ganz im Gegenteil wünschenswert, also etwa ein Curriculum, in dem es vorrangig darum ginge,  (Vor-)Urteile zu revidieren, Gewissheiten in Frage zu stellen, Hypothesen zu bilden, zu untersuchen und zu überprüfen.

Historische Bezüge sind bei den 12 Themenvorschlägen nicht zwingend.

Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn die traditionelle Fächereinteilung nicht mehr sakrosankt ist. Allerdings gibt es bisher kein überzeugendes Konzept dafür. Hans Süssmuth hatte in „Lehrziele und Curriculumelemente eines Geschichtsunterrichts nach strukturierendem Verfahren“ (in: Lernziele und Stoffauswahl im Geschichtsunterricht, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1972) theoretisch überzeugend nachgewiesen, dass ein eigenständiger Geschichtsunterricht, der einer fachwissenschaftlichen Logik folgt, falsch wäre. Er fordert einen universalgeschichtlichen Ansatz und sieht in Fragestellungen der Gegenwart den Ausgangspunkt. (Da sehe ich auch Widersprüche.) Herausgekommen ist 1972 ein Lehrplan, der ein Kind seiner Zeit war: Titoismus, Maoismus, Ost-West-Gegensatz, Dritte Welt, Comecon, Vietnam, alternative Wirtschaftsmodelle: Plan- und Marktwirtschaft. Ist es sehr böse, aus heutiger Sicht von Geschichtsmüll zu sprechen, der sich darunter befindet?

Der neue Berlin-Brandenburger Lehrplan ist schon jetzt dem Gestern verhaftet, wenn er in bewährter Manier den Vergleich der Stellung der Frau in BRD/DDR oder den Vergleich von Markt- und Planwirtschaft vorschlägt.

In 7/8 soll es vier Längsschnitte geben. Nur vier? Das heißt sechs Monate für ein Thema, z. B. „Gender“ inklusive sexuelle Vielfalt, „Der Mensch in seiner Umwelt“, „Migration“, „Juden, Christen, Muslime“, „Armut“.

Auf der Webseite des Deutschlandradios heißt es dazu sehr treffend: „Die Geschichte der Unterprivilegierten, der sozialen Ungleichheit, der Demokratie, der Gewalt, der Toleranz, der Migration, der Frauen, der Umwelt und so weiter in appetitlichen Häppchen aus Mittelalter und Neuzeit abzuhandeln – die Antike kommt schon gar nicht mehr vor –, und immer je nach Relevanz für die Gegenwart. Ob dies auch die Themen sind, die für die jeweilige Epoche von Belang waren, scheint keine Rolle zu spielen…

Wie will ein Siebtklässler historische Diagnosen zur – sagen wir – Situation der Frau in einer Reichsstadt des späten Mittelalters, in einer höfischen Residenz des 18. Jahrhunderts oder im Deutschland der Weimarer Republik sinnvoll zueinander in Beziehung setzen, wenn ihm die einfachsten Grundkenntnisse über die jeweiligen Kontexte fehlen? Ja, wenn er überhaupt, wie zu fürchten ist, keine Kenntnis des chronologischen Zusammenhangs mehr besitzt?“

Längsschnitt ist eine anspruchsvolle Methode. Er passt eher zu älteren Schülern. Neu ist, dass Lehrern die Unterrichtsmethode vorgeschrieben wird. Das erinnert an die DDR, wie auch der Begriff Gesellschaftswissenschaften: die Dipl.-Gesellschaftswissenschaftler/-innen der DDR hatten die Überlegenheit des Marxismus-Leninismus studiert.

In 9/10 verließ die Reformer der Mut, da geht es wieder chronologisch zu, auch wenn „Längsachsen“ eingezogen sind.

Unverändert konservativ bleiben die Lehrplanreformer/-innen beim Thema Völkermord und Massengewalt: ­ Herero-Aufstand 1904–1907 (siehe unten), ­ Armeniermord 1915/16, ­ Jugoslawienkriege nach 1991, ­ Ruanda 1994. (Der Holocaust hat in einem anderen Themenbereich seinen Platz.)

Der angebliche frühe deutsche Holocaust an den Hottentotten beruhte übrigens nicht auf einem präfaschistischen Vernichtungwahn. Die Zuständigkeiten zwischen der militärischen Haudrauf- und der zivilen Kolonialverwaltung waren nicht geregelt. Bis der deutsche Gouverneur erreichen konnte, dass Berlin das unverantwortliche Vorgehen der Militärs stoppte, war es zu spät. Ob das so in den neuen Berlin-Brandenburger Geschichtsbüchern stehen wird?

An die Auseinandersetzungen auf dem Balkan nach dem Zusammenbruch des Ostblocks dürften sich nur wenige Lehrer herantrauen. Das ist m. E. sehr komplex, es sei denn man hat das einfache linkspopulistische Weltbild, dass die NATO und Deutschland schuld wären und Stalin ein effizienter Wirtschaftsmanager, wie das Frau Dr. Wagenknecht und die russischen Schulbücher sehen. Zum Verständnis gehört die Geschichte der k.u.k.- und der Osmanenherrschaft, der russische Einfluss, die Vorkriegsjahre vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Balkan, etwa die Massaker der Serben an den Albanern, die Herrschaft Titos mit der Unterdrückung des Nationalismus der Balkanvölker und der Privilegierung der Serben, der nach 1990 wieder aufbrechende mörderische Nationalismus. Außerdem sollte man darauf achten, ob Schüler mit kroatischem und serbischem Migrationshintergrund in der Klasse sind. (Beim Thema Armenien wünsche ich Lehrern in Neukölln viel Spaß!)

Wo bleiben die Millionen Toten der chinesischen Kulturrevolution, die Killing Fields Kambodschas, die Millionen verhungerter polnischer, ukrainischer und  kasachischer Bauern des sowjetischen Holodomors? Sind diese Völker- und Massenmorde weniger gegenwartsbezogen als die Ermordung der Armenier, der Tutsi oder der Hereros? Warum die Versuche von Ideologen, den neuen Menschen zu erschaffen,ausgespart? In gewisser Weise zählte dann auch der Vietnamkrieg dazu. Aber eine solche Betrachtungsweise würde es erschweren,nur den Amerikanern die Kriegsverbrechen zuzuweisen.

Wenn man Konflikte und Kriege schon so stark thematisiert, warum bleiben dann Konfliktlösungen unberücksichtigt? Das Wort steht noch in der Themenüberschrift, Aber dann folgt neben Herero, Armenien und Runda eben nicht UNO, Völkerbund, KSZE, Internationaler Gerichtshof, Menschen- und Bürgerrechte.

Man könnte exemplarisch vorgehen. Dieser Begriff fiel mir nicht besonders auf (Er kommt dreimal vor, aber keineswegs so prominent wie Projektarbeit oder Längsschnitt.)

Es wäre auch nicht abwegig, wenn man in ostdeutschen Lehrplänen Ost- und Ostmitteleuropa stärkere berücksichtigen würde. Das ist aber überhaupt nicht der Fall.

Wie meist bei Lehrplanreformen sind es die Didaktiker der Hochschulen, die solche Konzepte schreiben. Sie werden auf Jahre hinaus davon profitieren: mit der Begleitforschung betraut sein, Unterrichtsmaterialien entwickeln und Lehrer fortbilden. Sie haben leichtes Spiel, weil der chronologische Geschichtsunterricht keinen guten Ruf hat. Gerne schreiben Journalisten abfällig von abfragbarem, auswendig gelerntem Wissen. Es ist aber so, wie es Churchill über die Demokratie gesagt haben soll: „Eine ziemlich schlechte Staatsform, aber kennen Sie eine bessere?“

Menschen, die in ihrer Schulzeit den früher einmal üblichen dreifachen Durchgang durch die Geschichte in 5-13 erfahren hatten, besitzen meist eine strukturierte Zeitvorstellung. Sie können ein Geschehen, ein Ereignis, eine Person in ein Jahrhundert oder eine Epoche einordnen, sie besitzen ein Zeitgerüst. Das haben heute allenfalls noch Historiker. Kein Wunder, wenn Schüler in Umfragen Napoleon, Adenauer, Hitler und Honecker durcheinanderbringen und (nicht nur) zeitlich falsch einordnen.

Ein Konsens darüber, welche Teile der Menschheitsgeschichte man weglassen könnte, besteht nicht. Diesbezügliche Reformkonzepte sind gescheitert. Es ist wie beim Aufstellen eines literarischen Kanons. Jeder will etwas anderes Unverzichtbares einbringen. In Hessen gelang es Althistorikern einmal, die Behandlung (Darf man das im Zeitalter der Kompetenzen, Standards und Konstruktivismen noch sagen?) des Altertums in die Oberstufe zu verlegen. Dafür sprechen gute Gründe. Die Antike hat Europa – vielleicht weniger die heutigen Griechen – entscheidend geprägt. Aber in 5/6 fehlte jetzt die Antike und in der Oberstufe herrschte stoffliche Überfülle.

In Hessen versuchte man schon 1972 mit den berühmt-berüchtigten“Rahmenrichtlinien“ das Fach „Gesellschaftslehre“  in den Klassen 5-10 einzuführen. Zyniker sagten damals: Geschichte als Steinbruch. In Hessen waren es immerhin gegenwartsbezogene, sozialwissenschaftlich begründete Fragestellungen an die Geschichte. In Brandenburg sind es, ganz auf der Höhe der postmodernen Pädagogik, Kompetenzen, Standards und Methoden. Geschichtliches Wissen? Als Content austauschbar, im Längsschnitt verwirrend.

Es wird kommen wie immer: Unterrichtet wird, was im Lehrbuch steht. Vom Lehrer bevorzugt wird das Fach, für das man die Fakultas hat: Ek, Pol oder Ge. Lehrer, die alle drei Fächer studiert haben, gibt es m. W. nicht. Bis Lehrer für die Gesellschaftswissenschaften ausgebildet sein werden, falls es je dazu kommt, gibt es schon wieder einen neuen Lehrplan. In Berlin kennt man das: Reformen werden irgendwann wieder kassiert (Früheinschulung, jahrgangsübergreifendes Lernen).

Was passiert mit dem Thema DDR, das bisher zu kurz kam, weil die Stundentafel nicht viel hergab? Alles ist möglich! Wenn man in Stufe 9/10 in zwei Jahren vom frühen 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart kommen muss, wird die DDR zur Fußnote der deutschen Geschichte. Wie viele deutsche zehnte Klassen „schaffen“ gerade einmal die Weimarer Republik, bevor es Zeugnisse gibt und die Lehrbücher eingesammelt werden? Andersherum: fast alle Themen aus 5/6 und 7/10, etwa Armut, Demokratie, Gewinn(!), Wasser für jedermann, ermöglichen das Narrativ, das so ähnlich schon im DDR-Staatsbürgerkundebuch Klasse 10 stand: „Die DDR ist der Höhepunkt der Entwicklung der Menschheit“.

Update: Die Unterschriftensammlung gegen den Entwurf war erfolgreich. Erst einmal wird weiter beraten.

Lesetipp: Jonas Kreienbaum, Ein trauriges Fiasko. Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika 1900 – 1908, Hamburg 2015

Zu den beliebten Geschichtsmythen linker Provenienz gehören die Kontinuitätsbehauptungen wie z. B. „Von Luther zu Hitler“ oder „Vom Herero-Aufstand zu Auschwitz“.

Kreienbaum untersucht die englischen, spanischen und deutschen Konzentrationslager in ihren jeweiligen Kolonien und etwaige Zusammenhänge zu späteren Lagersystemen. Die kann er nicht finden. In den Kolonien sei es darum gegangen, Guerillakriege zu beenden; Kämpfer sollten von der Bevölkerung getrennt werden. Einen Vernichtungswillen wie später bei den Nazis habe es nicht gegeben. Er findet keinen Beleg dafür, dass die Nationalsozialisten von den Lagern in Deutsch-Südwest gelernt hätten. Der Verweis der Nazis auf britische Concentration Camps in Südafrika sei propgandistischer Natur gewesen.

Wer genauer hinsieht, wird feststellen, dass der Vernichtungsbefehl des Generals von Trotha gegenüber den aufständischen Hereros im Reich auf erheblichen Protest stieß und der Reichskanzler den Befehl (zu spät) stoppte. Das Problem lag darin, dass das Militär im Kaiserreich nicht der Reichsregierung unterstand oder gar vom Reichstag kontrolliert wurde.

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