Stettin und die Friedensgrenze

 

Wer sich die Landkarte Vorpommerns ansieht, dem muss auffallen, dass die deutsch-polnische Grenze von der Insel Usedom bis südlich Stettin einen breiten Zipfel links der Oder umfasst. Die Potsdamer Konferenz hatte zwar die Aufteilung der Besatzungszonen geregelt, aber die Grenze zwischen der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands und den deutschen Gebieten, die Stalin den Polen als Kompensation für die im Osten an Russland abgetretenen polnischen Gebiete überlassen hatte, war offen gelassen worden bzw. es wurde pauschal von der Oder als Grenze gesprochen.

In diesem toten Winkel der Weltgeschichte spielte sich nach Kriegsende ein Drama ab. Die Sowjets setzten in Stettin von April bis Mitte Juli zur Verwunderung der Polen einen deutschen Bürgermeister ein. Mehrmals etablierte sich parallel eine polnische Verwaltung, die von den Russen aus der Stadt gewiesen wurde. Die beiden kommunistischen deutschen Bürgermeister von Stettin lieferten sich während ihrer Amtszeit im Sommer 1945 und später Scharmützel: Der zweite war sowjetischer Spitzel und Denunziant des ersten.

Die Russen hatten Stettin den Polen grundsätzlich zugesagt. Darüber hinaus versuchten polnische Vertreter, auch Usedom, Rügen und weitere Teile Vorpommerns in ihre Verwaltung zu bekommen.

(Die Karte ist aus einem Artikel des „Lassaner Boten“. Das scheint ein rechtsextremes Blatt zu sein, aber die Karte gibt die Sicht der polnischen Seite korrekt wieder.)

Den noch nicht geflüchteten und sogar aus Mecklenburg-Vorpommern wieder zurückgekehrten Deutschen in Stettin und dem unter polnischer Verwaltung stehenden Gebiet westlich der Oder fehlten Nahrungsmittel und Strom. Häuser und Bauernhöfe wurden geplündert. Bauernhöfe verfielen, Felder wurden nicht bestellt. Die Trecks nach Westen mussten von Russen gegen Banden geschützt werden.

Besonders kompliziert war die Situation um Pölitz/Pulice, nördlich von Stettin. Dieses Gebiet gehörte als Enklave im polnisch besetzten Vorpommern zur sowjetisch besetzten Zone, weil die Russen das dortige Hydrierwerk demontierten. Auch hier gab es eine deutsche Verwaltung, die aber von den Polen nicht anerkannt wurde. Die Verbindung zum restlichen Teil Mecklenburg bzw. Vorpommerns war völkerrechtlich nicht geregelt. Die deutschsprachige Bevölkerung hatte keine Transitrechte, es gab kaum Lebensmittelversorgung. Drangsaliert wurde sie von den Russen, den Polen und deutschen Gangstern.

Grenzkorrekturen gab es immer wieder. Auf Usedom wurde ein auf deutscher Seite stehendes Wasserwerk, an das auch Swinemünde angeschlossen war, abgetrennt. Swinemünde wurde von den Russen erst am 6.10. an Polen übergeben.

1947 versuchten polnische Soldaten die Westgrenze noch ein paar Kilometer nach Westen zu verschieben und besetzten das Dorf Neu-Linken. Die Grenzsteine wurden von Sowjetsoldaten wieder entfernt. Die Dorfbewohner, die schon die Koffer gepackt hatten, durften bleiben. (Auch Neu-Linken wurde polnisch; s. u. Kommentar!) Vom polnischen Oderufer wurde auf deutsche Fischer und Angler geschossen.

Schiffe mit vertriebenen Deutschen wurden auf der Oder und im Stettiner Haff festgehalten. Sie waren angeblich den polnischen Fischern gestohlen worden.

Es gab 1947 noch einmal einen Hoffnungsschimmer, als eine Stromleitung repariert wurde und Strom aus Stettin in die SBZ floß.

Die SED wurde von der UdSSR Anfang der 50er Jahre dazu gezwungen, auf eine Revision der Grenzen an der Oder zu verzichten. Darauf hatte sie in den Vorjahren bestanden. Flüchtlinge, die auf Rückkehr hofften, wurden jetzt Kriegstreiber genannt. Die Odergrenze wurde zur „Friedensgrenze“. Beliebt machte sich die Partei bei der Bevölkerung damit nicht.

Es geht das Gerücht, dass der polnische Verteidigungsminister Rokossowski den Polenhasser Stalin dazu überredet habe, dem Wunsch der Polen zu folgen und ihnen das Gebiet links der Oder und Stettin zu geben, obwohl es im Potsdamer Vertrag keine diesbezügliche Regelungen gegeben hatte.

Rokossowski stammte aus verarmtem polnischen Adel im zaristischen Kongresspolen und stieg in der Sowjetarmee bis zum Armeegeneral auf, nur unterbrochen von einer Zeit im GULag 1937 wegen angeblicher Spionage. Er wurde von Stalin 1949 als polnischer Verteidigungsminister eingesetzt und sollte die polnische Armee sowjetisieren. In Polen war er nicht sehr beliebt.

Ich bin eher der Ansicht, dass Stalin die Entscheidung über Stettin offen hielt, und so mit den polnischen Unterhändlern und den Westalliierten spielen konnte. Immerhin standen die Amerikaner noch in Thüringen und in Sachsen.

Erst jetzt, 70 Jahre danach, beginnt Tauwetter an der Friedensgrenze.

Um einem bei solch einem Thema beliebten Missverständnis vorzubeugen: Ich bin kein Anhänger offener Rechnungen. Ich habe großen Respekt vor dem Kniefall Willy Brandts 1970 in Warschau.

 

Quelle: Bernd Aischmann, Mecklenburg-Vorpommern, die Stadt Stettin ausgenommen, Schwerin:  2. Aufl. 2009.

10 Kommentare zu „Stettin und die Friedensgrenze

  1. Das Gebiet links der Oder und Stettin gehört zu Deutschland ,denn das rechte Ufer von Oder und Neiße ist die Westgrenze Polens . Das rechte Ufer !!!! Es gibt im Potsdamer Vertrag keine diesbezügliche Regelungen den Polen Gebiete links der Oder-Neiße zu überlassen . Völkerrecht über Kriegsrecht .

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  2. Es gibt heute noch Menschen ,die sagen und meinen :Die ehemaligen Bewohner dieser Ostgebiete
    größer als die DDR haben diese Opfer gebracht , die nie von der BRD vergütet wurden !

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  3. Es kommt aber so im Text sehr missverständlich rüber. Als wenn die Sowjetsoldaten die „Heilsbringer“ und Verteidiger des Mitteldeutschen Territoriums gewesen wären! Entschuldigen sie meine Emotionalität, welche dabei vielleicht zum Ausdruck kommen mag? 😉

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  4. In Polen 1992 haben mir polnische (!) Kollegen eine ähnliche Geschichte von „Stettin, der jüngsten Stadt Polens“ erzählt. Und das sich die deutschen SEDler aus Angst in Moskau nicht richtig durchsetzen wollten. „Eure Kommunisten waren immer nur die Hundchen der Russen“ sagte mir ein Pole lachend beim Bier.

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